Der Wal, Summerhill oder warum man die erste Liebe nie vergisst! ☺ Teil 1

Ich bin, wie bereits gesagt,  keine Morgenmensch, und darum ist es hart für mich, wenn der Wecker um 4:30 Uhr klingelt, so wie heute Morgen. Der Liebste musste nach Berlin und das mit dem ersten Flieger. Für mich ist das eigentlich undramatisch, denn weder erwartet der Liebste Morgenkaffee und Frühstück, noch sonst irgendeine Aktivität von mir. Er möchte nur kurz schmusen und einen Abschiedskuss, dazu bin selbst ich zu dieser unchristlichen Uhrzeit in der Lage. Aber ich bin dann halt eben erst mal wach und kann nicht direkt wieder einschlafen, müde werde ich leider erst zwei Stunden später wieder und dann muss ich auch noch mal schlafen, weil ich sonst nichts auf die Kette bekomme und Sport, müde für mich absolut nicht machbar ist.

Heute habe ich unter anderem gelernt, dass meine Mutter entweder eine Masochistin oder aber Lebensmüde ist. Zumindest ist das für mich die einzige Erklärung, die mich verstehen lässt, warum meine Mutter morgens meine Gesellschaft sucht, obwohl sie weiß, dass ich noch schlafen möchte.

Der Hausarzt unserer Familie hat seine Praxis eine Etage unter unserer Wohnung und er hat seine Sprechstundenhilfe schon vor ca. 15 Jahren abgeschafft. Statt dessen liegt unten eine Liste, in die man sich einträgt, und der Arzt ruft in entsprechender Reihenfolge auf. Unkompliziert und funktional!

Wenn meine Mutter also zum Arzt geht und ich das weiß, sage ich ihr in der Regel, das sie statt unten zu warte, auf einen Milchkaffee zu mir hoch kommen soll.

Heute morgen hab ich das um 7:30 Uhr abgesagt, weil ich mich komatös fühlte, lasst mich bitte anmerken, das ich sonst schon längst durch den Liebsten zu einer Frühaufsteherin erzogen wurde, aber heute ging das nicht. Trotzdem hat meine Mutter um 9 Uhr angerufen, dass sie mit Ihrer Mitbewohnerin Katharina auf einen Kaffee hoch kommt, weil sie noch Zeit bis zum Termin hatten. Das ist an Leichtsinnigkeit zu vergleichen, mit jemandem der mit nackten, frisch rasierten Beinen, durch ein Brenneselfeld spaziert. Es dürfte eine extrem unangenehme Erfahrung werden.

Niemand weiß besser als meine Mutter, dass ich ein wirklich schlimmer, bis leicht gefährlicher Morgenmuffel bin. Ich hab mir zwar Mühe gegeben, aber ich kann nicht wirklich nett sein, wenn ich die Augen noch nicht richtig aufmachen kann.

Wer ist also schlimmer, ich der Morgenmuffel oder meine Mutter die trotzdem über das Brenneselfeld spazieren will?

Mein Tag hat also durchwachsen angefangen und drum hab ich mich auch entschlossen, erst mal den heutigen Eintrag zu schreiben und darüber wach zu werden, als mit Sport anzufangen, wie sonst üblicher Weiße, zumal ich ja gestern nichts von mir hab hören lassen.

Manchmal muss man sich entscheiden und gestern hatte ich die Wahl zwischen einem ausgiebigen Beisammensein mit alten Freunden oder die Geburtstagsfeier früher zu verlassen, um einen Eintrag zu schreiben. War ja wohl klar, wie so eine Entscheidung ausfällt. Reales Leben wird immer gegen virtuelles Dasein gewinnen! 🙂

 

Bevor ich Euch aber von dem gestrigen Tag erzähle, möchte ich Euch erst noch von einem der wichtigsten Orte meines Lebens berichten, der Schule Summerhill.

SUMMERHILL SCHOOL, LEISTON, SUFFOLK, JASON BYE, 09/06/1999

 

Wer den Eintrag „Der selbstbewusste Wal! Eine Lebenslüge?“ gelesen hat, wird schon mitbekommen haben, das ich eine ehemalige Schülerin der Schule Summerhill bin oder wie wir uns nennen, ein „Summerhillien“!

Ich habe übrigens tatsächlich noch ein Bild gefunden, auf dem der Pinke Jogginganzug zu sehen ist, der mir den Spitznamen „Pink Elephant“ eingebracht hat. Wer den o.g. Eintrag gelesen hat, weiß wovon ich spreche. Dieses Bild wollte ich Euch nicht vorenthalten.

Debby in Pink

Nach dem gestrigen Tag, musste ich mich fragen, warum ich in einem Blog, der von mir selbst handelt, noch nicht wirklich etwas von dem, für mich, schönsten Ort der Welt erzählt habe, der mich so extrem geprägt hat. Die einzige Erklärung die ich habe, wird etwas arg sentimental klingen, aber es entspricht nun mal der Wahrheit. Manche Erinnerungen sind so kostbar, schön und gleichzeitig Schmerzhaft, das man sie in eine Schublade steckt und nur ganz selten rausholt, einfach weil es auch Jahrzehnte später noch zu qualvoll ist, darüber nachzudenken. Obwohl ich mittlerweile seit 29 Jahren nicht mehr in Summerhill Schülerin bin, bekomme ich immer noch Heimweh nach diesem, für mich absolut magischen, Ort.

Ich werde Euch jetzt nicht erklären was Summerhill für eine Schule ist, denn das könnt Ihr googeln. Im Internet gibt es genügend Seiten auf denen das gut zusammengefasst erklärt wird. Ich bin sicher nicht qualifiziert, hier die Philosophie der Schule niederzuschreiben. Einfach weil ich glaube, das jeder etwas ganz individuelles aus seiner Summerhill Zeit mitnimmt. Darum bin ich auch nur in der Lage, Euch von meinem Summerhill Gefühl zu berichten. Aber damit Ihr zumindest ein grobes Verständnis der Schule habt, sei soviel dazu gesagt:

Summerhill ist eine demokratische Schule in der Kinder, Betreuer und Lehrkräfte die Fragen des Alltags gleichberechtigt klären. Der Besuch des Unterrichts ist freiwillig. Neben den klassischen, gesetzlich vorgegebenen Unterrichtsfächern gibt es auch ein aufgeprägtes Angebot an musischen und Handwerklichen Fächern.

Ergänzen möchte ich diese recht sachliche Beschreibung mit einem Zitat des Schulgründers A.S. Neill, den ich leider nicht mehr kennengelernt habe.

A.S. Neill

„Die Schule sollte Kindergeeignet gemacht werden und nicht die Kinder schulgeeignet“

Dieser Satz erklärt vielleicht am besten wofür Summerhill steht, nämlich ein Ort zu sein, an dem Kinder glücklich, frei und ohne Druck raus finden können, wer sie selbst wirklich sind und was sie im Leben wollen.

Aber nun zu meiner persönlichen Geschichte. Meine Mutter war ihre ganze Kindheit lang unglücklich in der Schule und wollte mir ein ähnliches Schicksal ersparen. Schon während sie mit mir schwanger war, lass sie alles an Bücher von A.S. Neill und Summerhill, was sie nur in die Finger bekommen konnte. Aber sie war selbst noch ziemlich jung und die Möglichkeit Ihr Kind auf ein Internat nach England zu schicken, erschien Ihr damals erst mal unmöglich.

Kurz vor meinem 9. Geburtstag, traf Sie einen alten Studienkollegen wieder, dessen Tochter bereits in Summerhill zur Schule ging. Meine Mutter fackelte nicht lange und fuhr mit mir nach England um Summerhill zu besuchen. Ich erinnere noch, dass ich sehr gemischte Gefühle bezüglich dieser Aktion hatte, denn ich war gerade erst offiziell zu meiner Mutter und Ihrem damaligen Mann gezogen und es gefiel mir sehr gut. Ich dachte, das sie mich los werden wollte, und da ich auch schon vor SH nicht schüchtern war, sagte ich das meiner Mutter auch.

Ich weiß noch das sie damals ziemlich gelacht hat und meinte, „Los werden könnte ich Dich wahrscheinlich auch wesentlich billiger. Du weiß es jetzt noch nicht, aber ich mache Dir ein Geschenk, das wirst Du aber später irgendwann begreifen“ Sie sollte recht behalten!

Als wir das erste mal die Auffahrt zur Schule hoch fuhren, hatte ich vor lauter Aufregung solches Herzklopfen, das ich dachte mir würde die Brust zerplatzen. Summerhill ist nicht nur wegen der Philosophie ein wundervoller Ort, sondern tatsächlich auch physisch unfassbar schön. Die Schule ist ein bisschen wie ein Landsitz einer englischen Adelsfamilie angelegt, zumindest fühlte ich mich sofort an die Beschreibungen solcher Landsitze in den Liebesromanen meiner Großmutter, erinnert.

Als Kind dachte ich sofort, das an diesem Ort bestimmt alles möglich ist. Ich weiß noch, das als ich vor ein paar Jahren den erste Harry Potter Film sah, ich sofort dachte das Harry Potter sich beim ersten Anblick von Hogwarts, bestimmt genauso gefühlt hat wie ich, als ich das erste mal Summerhill erblickte. Ich glaube es ist unmöglich, sich nicht sofort in diesen Ort zu verlieben, selbst wenn man kein Kind mehr ist.

2011 waren der Liebste und ich wieder dort um an einem Ehemaligen Treffen teilzunehmen und auch er ist dem Charme dieses Ortes sofort erlegen.

Wir blieben im Sommer 1979 drei Tage dort und ich war ab diesem Zeitpunkt begeistert von der Möglichkeit, dass ich dort leben sollte. Meine Mutter sprach also mit Ena Neill der Schulleiterin und ich kam auf die Warteliste. Genau ein Jahr später kam der Anruf, dass ein Platz für mich frei wäre. Im Sommer 1980 trat ich also meine Reise in einen Neuen Lebensabschnitt an, der mich maßgeblich für den Rest meines Lebens prägen sollte.

Debby Summerhill 1980

Euch zu erklären, warum Summerhill eine so große und wichtige Rolle in meinem Leben spielt, ist gar nicht so einfach. Darum will ich versuchen zu beschreiben, was mich beeindruckt hat. Wie in jeder anderen Schule auf dieser Welt oder zumindest die, die wir kennen, gab es auch in Summerhill Schüler mit unterschiedlichen Interessen und Lebenseinstellungen. Es gab Punks, Popper, Hippies, Leseratten, Musiker, Handwerker, Träumer, Philosophen, Gärtner und Künstlern.

Natürlich waren wir das alles noch nicht, aber die Richtung in die wir uns entwickeln würden, war teilweise deutlich erkennbar in unseren individuellen Persönlichkeiten.

In SH durfte jeder seinen wirklichen Interessen nachgehen, wir wurden in kein Korsett gezwängt und viel wichtiger noch, unsere Interessen haben uns nicht in Gruppen gespaltet. Ein Popper und ein Punker waren trotz unterschiedlicher Interessen bzw. Lebenseinstellungen, Freunde. Man wurde nicht ausgegrenzt, wenn man nicht in ein bestimmtes Schema passte. Das war einfach nicht ausschlaggebend für das Zusammenleben. Solange man keine anderen Menschen in der Gemeinschaft durch sein Verhalten verletzte, war das Motto „Leben und Leben lassen“!

Als ich 1984 nach Deutschland zurückkehrte, war für mich das auffälligste, das in meiner neuen Schule alle Schüler in Gruppen aufgeteilt waren. Nicht etwas weil sie Schule das gewollt hätte, sondern weil sie es selber wollten. Die Klamotten die man trug, waren entscheidend dafür, in welche Clique man gehörte. Ich habe mich nie an diese Regel gehalten, was mir das Leben am Anfang nicht unbedingt leichter gemacht hat.

Aber man verpasst viele interessante Dinge, wann man sich von einer Clique „gefangen“ nehmen lässt. Da ich sowieso in keine einzige Clique wirklich reingepasst hätte, ich war damals in Latzhosen mit Peace Stickern unterwegs, habe ich mir von Anfang an Freunde in allen möglichen Gruppen gesucht und das hat nach anfänglichem Misstrauen auch gut funktioniert. Ein Schulfreund sagte damals, das ich ein bisschen wie ein exotischer Papagei in der Schule, wirken würde. Das war damals wie heute ein Label mit dem ich gut leben konnte 🙂

Aber zurück in die Vergangenheit.

Summerhill ermutigt die Schüller sich auszuprobieren und das sowohl beim Lernen, wie auch in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. So sollte es auch niemanden verwundern, das ich mir direkt im ersten Trimester meine langen Blonden Haare Abschnitt und mir mit Lebensmittelfarbe Lila färbte. Eine Tatsache die meine Mutter mir bis heute nur schwer verzeihen kann. Zu meiner Verteidigung möchte ich aber vorbringen, dass ich dachte, dass die Farbe sich nach einem Tag wieder raus waschen würde, tat sie aber nicht! Es dauerte knapp 6 Wochen bis man wieder erkennen konnte, dass ich eine Blondine war 🙂

Als meine Mutter mich damals am Flughafen abholte, sah sie mich, drehte sich um und sagte zu dem Empfangskomitee, welches sie mitgebracht hatte, das ich wohl den Flieger verpasste hätte, denn sie könne Ihr Kind nicht sehen. Noch heute bin ich unsicher, ob sie mich auch ohne Intervention Ihrer Freunde, mit nach Hause genommen hätte 🙂

Könnt Ihr Euch vorstellen, wie wundervoll es ist, als Kind jeden Morgen aufzuwachen und sich überlegen zu dürfen wie man seinen Tag verbringen möchte? Es ist tatsächlich zu schön um wahr zu sein. Jeder Tag hatte neue Abenteuer in sich, wir spielten im Wald, schnitzen und hämmerten in der Schreinerei, andere töpferten, mahlten oder machten Musik und nicht gerade wenige gingen zum Unterricht.

Eine Frage die mir in den letzten 30 Jahren immer wieder gestellt wurde, wenn das Thema auf SH kam, war wie man den Lehrstoff aufholen kann, wenn man nicht von Anfang an zum Unterricht geht. Eigentlich ganz einfach, denn wenn man freiwillig lernt, lernt man intensiver und auch mehr, einfach weil man ja wirklich Lust darauf hat. Abgesehen davon wird nie Zeit damit verschwendet, das man Unruhestifter dazu ermahnen muss, still zu sein, aufzupassen oder andere Schüler nicht abzulenken.

Wenn in SH ein Schüler im Unterricht gestört hat, war es nie ein Lehrer der Ihn ermahnt oder gar des Klassenzimmers verwiesen hat, sondern fast immer ein anderer Schüler.

Wer Lust hat zu lernen, will dabei nicht gestört werden. So einfach ist das manchmal!

Summerhill ist sicher keine Schule die Revolutionäre hervorbringt, aber wir wurden immer ermutigt, Dinge zu hinterfragen. Ein Erwachsener war nicht automatisch klüger als ein Kind und Autoritäres Verhalten wurde weder bei Schülern, noch bei Lehrern oder Betreuern toleriert. Wir lebten die Ursprünglichste Form der Demokratie.

Ich könnte und würde Euch am Liebsten noch Seitenlang davon erzählen was ich alles in Summerhill geliebt habe, aber das würde den Rahmen sprengen 🙂

Der Sommer 1984 sollte mein letzter Sommer in Summerhill sein, denn obwohl die Schule nicht ungewöhnlich teuer für ein Internat ist, konnte meine Mutter meinen Aufenthalt dort nicht länger finanzieren. Als freiberufliche, Alleinerziehende Mutter, mit einem Erzeuger der seine Alimente nie bezahlt hat, war die finanzielle Belastung einfach zu groß. Ich habe das schon damals absolut verstanden und eingesehen, aber der Moment als ich Summerhill verlassen musste, war auch der Moment als mir das erste mal das Herz gebrochen wurde. Auch wenn Summerhill „einfach“ nur eine Schule ist, so lebt man dort wie in einer Familie und die anderen Kinder sind mehr Geschwister, als Schulkameraden. Ihr kennt ja den Spruch, das man die erste Liebe nie so richtig verwinden kann. Meine erste Liebe war Summerhill!

Meine Endgültige Abreise von Summerhill, neben mir Ena Naill, damals Schulleiterin und Witwe von A.S. Neill:

Debby letzte Abfahrt von Summerhill

Früher war es üblich, das ehemalige Summerhilliens zur Abschlussfeier des jeweiligen Sommertrimesters zu besuch kamen. Auch ich kam noch zweimal zu Besuch. Einmal 1986 und das nächste mal 1988. Diese Besuche waren so schön und gleichzeitig so schmerzhaft, das es 23 Jahre dauern sollte, bevor ich Summerhill im Sommer 2011 wieder sehen sollte.

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Dieser Eintrag wird sogar für meine Verhältnisse sehr lang, da ich Euch nicht zu sehr ermüden möchte, erzähle ich diese Geschichte morgen weiter und gehe jetzt zum Sport… 😉

 

2 Kommentare zu “Der Wal, Summerhill oder warum man die erste Liebe nie vergisst! ☺ Teil 1

  1. Na solange Du nicht Deinen Namen tanzt *g*….ich habe mal vor längerem eine Doku über Summerhill gesehen, ich war fasziniert und hat natürlich entgegen meinem Witz absolut nichts mit der Walldorfschule zu tun geschweige dem etwas mit ihr gemein….Du hattest wirklich Glück dass Du diese Schule besuchen durftest 🙂

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  2. na toll ich mach einen kommi und der ist weg ahhhhh, ich finde solche schulen eine gute wahl. kinder entwickeln sich immer besser wenn sie sich ihren möglichkeiten entsprechend entwickeln und weniger stress haben. hätte ich das geld wäre diese schule meine wahl…

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